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*Maximillian Ryland, Orphelia, 29.05.2051 12:06 Uhr*

Ein Gefühl von Körperlosigkeit erfüllte mich. Es war ein Gefühl, als würde ich aus einem tausendjährigen Schlaf erwachen, aber im ewigen Nichts sein. Als wäre ich meiner Existenz bewusst, aber wäre in einen Raum voller Leere. Nur merkte ich, wie sich der Raum um mich herum fortbewegte, als würde ich auf ein Ziel zu steuern. Diese Wahrnehmung von Bewegung war schwer zu beschreiben. Es war so flüchtig. Bald hörte dieses Gefühl auf und das Empfinden wach zu sein verschwand.

Die Sonne flutete mit ihrem gleißenden Licht die Umgebung und weckte mich auf. Ich öffnete langsam die Augen und bekam das Gefühl eines Déjà-vus. Eine Baumkrone mit dunkelgrünen Blättern erstreckte sich über meinen Kopf, wodurch sich das strahlende Blau des Himmels dazwischen drängte und ich realisierte, dass ich mich draußen befand. Überrascht und hastig stand ich auf und schaute mich um. Es war ein großer, umzäunter Garten mit Gemüsebeeten, einer gigantischen Eiche unter der ich nun stand und einigen Hibiskuspflanzen, die den Garten zierten. Dazu gesellten sich einige gläsernen Blumen, die im Gegensatz zu meiner Heimatstadt Demton einen starken, regenbogenfarbenden Glanz hatten. Was ist hier nur los? Wo bin ich? Ich wurde doch von Schlingpflanzen umschlungen. Befand ich mich nicht im botanischen Garten? All die Eindrücke und fragenden Gedanken wirkten gleichzeitig in einer Sekunde auf mich, denn mehr Zeit hatte ich nicht. All das wurde nämlich unterbrochen, als ich nach diesem Augenblick auf der Terrasse eine Frau mit hüftlangen, farblosen Haaren sah, die mich völlig entgeistert und verwirrt anschaute. Dabei fiel ihre Gießkanne aus der Hand und lag wie ein umgefallener Sack auf den Boden, welche den Boden durchnässte. Ich schaute sie ebenfalls absolut verwirrt an.
Einige Sekunden vergingen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, bis die junge Dame mit ihren dunklen Sandalen ein Schritt auf mich zu ging und ihr schlichtes, schwarzes Sommerkleid in Bewegung setzten. Immer noch entsetzt sagte sie: »... Es ist unhöflich, einfach so in Gärten anderer zu erscheinen! Aber noch viel wichtiger: Wie... hast du das gemacht?!«
Ich schaute kurz weg, sah noch mal rasch die Umgebung an, schaute mich an, und dann wieder sie. Mein Verstand war noch nicht so weit, um antworten zu können, weil er noch einiges zu verarbeiten hatte. Nur ein hilfloser Blick von mir war die einzige Antwort, die ich geben konnte.
Die Dame in Schwarz hatte anscheinend genug Einfühlungsvermögen, um mein Blick richtig deuten zu können. »Du weißt es wohl auch nicht. Komm' erst mal rein und setz' dich.«, sagte sie inzwischen und schien sich langsam zu entspannen. Das ging ja schnell. Ich folgte ihrem Appell.
Zwei Minuten später saß ich nun am Esstisch einer geräumigen Küche mit einer großen Glasfront. Diese ermöglichte einen wundervollen Blick in den Garten und hatte selbstverständlich eine Tür, welche zum Garten führte. Während die freundliche Dame die verbrannten Überreste aus dem Ofen holte, schaute ich zur Decke und beobachtete die eckigen, geometrischen Formen, die wohl zur Dekoration von der Decke hingen. Sehr... individuell. Nicht nur das. Es ragten Wurzeln aus manchen Ecken aus den Wänden und ragten hintern Möbel und Geräte. Wirklich sehr individuell.
Allmählich war ich etwas beruhigt, aber immer noch nervös aufgrund der fremden Umgebung. So wie es aussieht, scheint sie wohl eine ziemliche Eigenbrötlerin zu sein. Sie öffnete den dunkelvioletten Kühlschrank, der nicht so ganz zur rustikal eingerichteten Küche passte. Wie es aussah, war es Limonade, welche sie daraus holte. Mit zwei Gläser kam sie auf mich zu und setzte sich gegenüber von mir und schenkte uns beiden etwas mit der mit Dreiecken eingestanzten Glaskanne ein. »Danke«, sagte ich nur. Das erste Wort, was ich seit dem Aufwachen gesagt hatte.
»Nun gut junger Mann, lass mich dir erst einmal vorstellen. Mein Name lautet Emelia Ryland. Geboren in Salzstadt und bin Student in Bereich Archäologie. Außerdem bin ich Eigentümerin dieses Hauses, wie dir wahrscheinlich aufgefallen sein sollte.« Emelia legte eine solche Eleganz in Ihrer Betonung, als wäre sie etwas ganz besonderes. »Also.«, antwortete ich, »ich heiße Maximillian Ryland und komme aus Demton. Ich wurde dort 1992 geboren-« Emelia fiel mir direkt ins Wort mit einem geschockten »WIE BITTE?!«
Verwirrt blickte ich sie an und sie entschuldigte sich. »Es war unhöflich von mir. Verzeih. Fahre bitte fort.«
»Kein Problem, ich war fertig.«
»Okay. Ich bin nur etwas durcheinander. Dein Erscheinen war ja schon sehr sonderbar. An der Stelle, an der du aufgetaucht bist, war für gefühlt eine Minute alles so... ich weiß nicht, wie ein Zerrbild der Realität. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Nach einer sehr kurzen Denkpause fragte sie: »Kennst du diese klassischen, verzerrten Grafik-Glitches aus Videospielen? So sah es aus. Nur in der Realität. Als dieses Phänomen abklang, lagst du dort und hast deswegen meine Mahlzeit ruiniert. Nicht nur das. Jetzt erzählst du mir, du wärst knapp 60 Jahre alt, siehst aber aus wie 30? Was geht hier vor?«
»Ich weiß es nicht. Aber was meinst du mit 60? Was für ein Tag haben wir? Wo bin ich überhaupt?« Ich war verwirrter denn je und hatte eine Vorahnung, dass ich die Wahrheit lieber nicht wissen sollte.

Emelia seufzte und nahm einen Schluck von der Limonade. Mit einen leichten vorwurfsvollen Blick sagte sie: »Na, das kann ja was werden. Du wirst strapaziöser, als ich dachte.« Sie warf ihr Haar zurück und erzählte: »Erzähl mir bitte erst, woher du kommst. Beschreibe dieses Demton, von dem du erzählst. Ich habe es noch nie gehört. Ein ungewöhnlicher Name.«
Ich antwortete: »Okay, ich lebte ursprünglich im Jahr 2021. Demton war eine Stadt, die sehr altertümlich wirkte. Eine Mischung verschiedener Gebäude verschiedener Zeiten. Es hatte generell einen alten Flair. Es gab auch Sehenswürdigkeiten wie einen großen botanischen Garten...« Kurz stockte ich, weil mir der Gedanken über die Geschehnisse mit den Schlingpflanzen wieder durch den Kopf schoss. Nach einem kurzen Moment fragte Emelia leicht gehässig: »Hat dein Gehirn ausgesetzt?« Darauf antwortete ich: »Nein, tut mir leid. Mir ging grad etwas durch den Kopf. Erkläre ich später. Auf jeden Fall gibt es noch etwas anderes Besonderes in Demton. Vor paar Jahrzehnte ist ein Asteroid in unsere Stadt gefallen. Zum Glück auf einem Feld, aber dieser Asteroid gibt zwei Rätsel auf. Einmal ist es eine seltsame Route auf uns hinab gestürzt, als hätte eine unsichtbare Kraft die Flugbahn manipuliert. Außerdem kann man nicht damit interagieren, denn er strahlt eine Energie aus, die ihn schützt. Es ist quasi ein Energiefeld, das wie die äußere Schicht des Gesteins funktioniert. Mit einen starken Laser löst sich diese Beschichtung auf, allerdings seeehr langsam. Es kann noch Jahre dauern und viel Energie benötigen, bis der Schutzschild weg ist und das Geheimnis dahinter erforscht werden kann. Natürlich ist das alles sehr teuer.«
Das Glas schwenkend und mich interessiert zuhörend, schaute sie mich an. »Wow, Maximillian. Das klingt sehr interessant. Du musst mir später mehr von deiner Welt erzählen. Was aber grad brennend mein Interesse weckt, ist, an was du dich erinnern kannst, kurz bevor du hier erschienen bist. Aber erst mal kläre ich dich auf, wo du dich hier befindest... oder wann.«

Noch den letzten Schluck austrinkend bereitete sie sich seelisch auf ihre Erläuterung vor. Nach einem langen Atem begann meine Gesprächspartnerin zu erzählen: »Maximillian, ich möchte, dass du in Ruhe zuhörst und mich aussprechen lässt.« Ich nickte. »Nun, du befindest dich im Jahr 2051, ein Zeitalter ohne Vergangenheit.« Das Geräusch von zerspringenden Glas verbreitete sich durch die Küche. Mir ist vor Schock das Glas aus der Hand gefallen. Emma schaute mich mit einem unheimlichen Blick an und fuhr fort. »Alles, was länger als 10 Jahre her ist, also alles vor dem Jahr 2041 ist verloren gegangen. Kaum einer hat Erinnerungen und es gibt kaum Aufzeichnungen. Wir sind eines Tages quasi alle mit Amnesie aufgewacht und Informationen aus der Vergangenheit gibt es nur noch sehr wenig. Es existieren Erinnerungsschnipsel und eine Handvoll von Textpassagen, die von früheren Zeiten erzählen. Ab und zu finden wir tatsächlich das eine oder andere Artefakt, dass uns mehr von damals erzählt, aber es ist insgesamt sehr wenig. Das Einzige, was uns wirklich geblieben ist, sind unsere Persönlichkeiten, den Konsens für unserer Gesellschaft, unsere Beziehungen und Alltagsleben. Daran erinnern wir uns, aber nicht, wie die Welt genau vor über 10 Jahren war.«
Ich war überwältigt. Überfordert und geschockt starrte ich Emelia an. Dabei starrte ich auf die Scherben. Ob meine Schwester noch lebt? Sie müsste jetzt 61 sein. Oder generell meine Familie? Sie redete weiter: »Wir befinden uns in Orphelia, auf dem Kontinent Mesa.«
Es wurde erst einmal still. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. »Nun« sagte ich, nachdem mein Verstand den lautlosen Moment nutzte, um die Dinge oberflächlich zu realisieren. »Ich kann es kaum glauben. Das ist echt viel. Ich brauche noch ein Moment.« Mein Gegenüber nickte und sagte: »Ich kann es selbst kaum glauben, aber nachdem ich diese Verzerrung in meinen Garten gesehen habe, muss ich es glauben. Nach Minuten weiterer Stille erwiderte ich: »Ich möchte dir erzählen, was mir passiert ist. In unserer Welt tauchte eine seltsame gläserne Blume auf, so wie die in deinen Garten. Diese ist eigentlich nicht heimisch dort. Dort wo sie auftaucht, gibt es einen temporären oder permanenten Stromausfall. Wir können nicht mit der Blume interagieren, sie zerfällt sofort. Vorhin... oder vor eher 30 Jahren berührte ich eine solche Blume, welche auf einmal aus dem nichts Schlingpflanzen emporschießen ließ und mich damit umschlang. Ich verlor dabei das Bewusstsein und bin dann hier aufgewacht.«

Emelia hielt kurz inne. Sie schaute mich direkt an und sprach: »Du könntest der Schlüssel zu unserer Vergangenheit sein. Ich schlage dir Folgendes vor: Du solltest mit Forschern die sich mit unserer Vergangenheit beschäftigen sprechen. Ein paar Treffen mit Personen, die noch wenige Fragmente der Vorzeit als Erinnerung haben, wären auch von Vorteil. Wir sollten auch zunächst diskret bleiben. Kein Wort zur Regierung oder Medien. Zu viel Aufmerksamkeit würde unsere Suche behindern und du würdest ein stressiges Leben hier führen. Jeder, ob Regierung, Reporter oder das gemeine Volk möchte den Wunderjungen aus der Vergangenheit sehen. Natürlich wird das Risiko steigen, je mehr Leuten wir mit ins Boot holen. Aber versuchen wir, den Supergau so lange wie möglich zu verzögern. Es würde dir zwar eh niemand glauben, aber sicher ist sicher.« Sie fügte hinzu »Selbstverständlich werde ich dich begleiten. Einer muss auf den armen Jungen aufpassen. Nicht, dass er sich verläuft. Natürlich möchte ich auch das Geheimnis aufdecken, welches dich umgibt.« Dabei war das ›Selbstverständlich‹ besonders betont gewesen. Ich mochte ihre zynische Art gerade nicht.
Sie schien kurz nachzudenken und ich schaute mich derweilen um und nutze den Moment, um weiterhin alles zu realisieren. Es schien aber, dass es noch dauern wird, bis ich das alles hier realisiert habe. Währenddessen erblickte ich ein Foto über den Türrahmen, welches zum Flur führte. »Das sieht schön aus. Dieser Brunnen, vor dem ihr steht, sieht echt majestätisch aus. Aber wer ist die Kreatur neben dir eigentlich? Er sieht so echt aus.«
»Oh«, antwortete Emma direkt. »Vermutlich gab es vor 30 Jahren diese Kreaturen nicht. Das klingt spannend. Das ist Szymon. Mega sympathisch. Aber ich rede später über ihn, denn es gibt grad wichtigere Dinge zu tun.« Zügig holte sie ein Gerät hervor und tippte dieses an. Es erschien ein holografisches Display und Emelia tippte kurz drauf rum. Sie schien jemand anzurufen. Das Gerät führte sie zum Ohr und das Display verschwand. Es war offenbar der Nachfolger von Smartphones. Sie unterhielt sich kurz und legte wieder auf. Sie kam auf mich zu und sagte: »Wir werden jemanden treffen. Zuerst will ich dich aber mit etwas überraschen, was dir definitiv gefallen wird.« Ich schaute sie ein wenig verwirrt an. Sie kannte mich erst seit gerade eben und behandelte mich schon so vertraut. Wir beide gingen Richtung des Ausgangs und erhaschte ein Blick in ihr Wohnzimmer. Es stand eine Violine neben dem Sofa. Doch auf einmal wurde es schwarz, denn man verband mir die Augen.
Ruhig fragte ich: »Was hast du vor?«
»Ich möchte, das der Ort dich maximal... naja... aus den Socken haut.« Offenbar gibt es selbst in den 50er-Jahren der Zukunft immer noch mir bekannte Sprichwörter. Für die Leute hier muss dieses Sprichwort ja altertümlich sein. Da frage ich mich, wie alt das Sprichwort in meinem Zeitalter überhaupt war.
»Du behandelst mich so vertraut. Und du scheinst das alles so hinzunehmen.«
Emelia antwortete: »Naja, du wirkst nicht bösartig. Und endlich passiert hier mal was. Die Archäologie dreht sich gerade total im Kreis. Außerdem war an der Stelle, an der du erschienen bist, für gefühlt 2 Minuten eine Verzerrung im Raum, wie ein visueller Glitch in einem Videospiel. Das ist Beweis genug, dass du etwas Anormales bist.
»... Du hättest ruhig ›besonders‹ statt ›anormal‹ sagen können. Wäre netter gewesen.«
»Hätte ich. Ja. Diese Möglichkeit war durchaus vorhanden. Aber ich habe mich dagegen entschieden.«

Emma führte mich aus dem Haus und wir gingen gefühlte 15 Minuten lang. Währenddessen hörte ich nur viele Stimmen, Schritte und sonstige Geräusche, die typisch für eine geschäftige Großstadt klangen. Als wir stehen geblieben sind und das Wasserrauschen, welches seit einer Minute zu hören war, nun den lautesten Pegel hatte, nahm mir Emma die Augenbinde ab. Sie sprach enthusiastisch: »Willkommen in Orphelia! Die zentrale Stadt der Bildung, Wissenschaft und Ideen auf Mesa! Nebenbei auch die schönste Stadt der Welt.«
Wie recht sie hatte. Der riesige Springbrunnen, welches auf den Foto in Emmas Haus war, stand nun vor mir. Ich fuhr den Kopf gen Himmel, um den 10 Meter hohen Brunnen zu begutachten. Er war aufgebaut wie eine Etagen-Torte, bei den das Wasser Etage für Etage den Weg nach unten suchte. Dabei entstanden wegen des sonnigen Wetters immer wieder kleine Regenbögen. »Wow, das ist echt wunderschön«, sagte ich, während ich die Umgebung um den Brunnen herum anschaute. Er war riesig, fast schon wie ein rundes Fußballfeld. Mehrere Straßen und Gassen gingen vom Platz ab. »Mir gefallen die grauen Steinplatten auf den Marktplatz. Dass ab und zu eine Steinplatte bunt ist, wirkt irgendwie stimmig.« Emma grinste nur.
Was mich aber noch mehr verblüffte, war die Tatsache, dass hier Menschen, aber auch anthropomorphe Tiere umherliefen. Nicht nur das: Am Rande des Platzes auf einer Bank saß ein Mann mit einem Tier, das aussah wie ein Werwolf. Sie gaben sich einen Kuss.

Wie? Wie sind in nur 30 Jahren aus Tiere, solche intelligente Wesen geworden? Mit einer solchen Akzeptanz, dass anscheinend sogar Beziehungen ganz normal sind. Nicht, dass es schlecht sei. Nur eine solche Entwicklung in kurzer Zeit kann ich mir nicht vorstellen. Was sind in den 30 Jahren nur passiert? Was ist vor 10 Jahren passiert? Und viel wichtiger: Was ist mit mir genau passiert und warum? Ich war fest entschlossen, all das herauszufinden. Aber bis dahin werde ich noch einige zeit brauchen, um zu merken, dass das hier kein Traum ist. Vielleicht ist all das hier nicht echt, aber ich wusste, dass sich all das hier viel zu echt anfühlte, um ein Traum zu sein.