CHAPTER 1 - Wiedersehen
Langsam schlenderte er durch das Kaufhaus, die Hände in seinen Hosentaschen. Der Blick seiner Augen wanderte über die Auslagen in den Schaufenstern. Im Glas spiegelte sich sein Gesicht. Ein blauer Vogel, mit einem gelben und einem roten Augen starrte ihn an. Die Narbe über seinem linken Auge war immer noch gut zu sehen. Doch ihn interessierte sein Spiegelbild nicht, sondern das, was hinter dem Glas lag. Das Cover des neuen “Messenger Effect" zog seinen Blick magisch an. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er entschieden, dass sein Monatskonto das abkönnen musste und er betrat den Laden. Regalreihen voller Musik und Filmen erstreckten sich vor ihm. In den Gängen dazwischen herrschte ein reges Treiben. Ein kleiner Katzenjunge, vielleicht 9 oder 10 Jahre alt bettelte seine Mutter an, die Fassungslos auf die Preisschilder starrte. Ein paar Meter weiter konnte man die nächste Eskalationsstufe betrachten, wo ein Wolfsjunge begonnen hatte, Dinge aus den Regalen zu werfen, während seine Mutter hilflos daneben stand. Schnellen Schrittes näherte sich ein Angestellter des Ladens, doch Avis zweifelte, dass dieser die Situation deeskalieren könnte. Ein lauter Knall hinter seinem Rücken schien ihm Recht zu geben und ließ zusätzlich darauf schließen, dass der Junge irgendetwas größeres Umgeworfen hatte. Den Schreien der Mutter nach zu urteilen, etwas großes und teures. Avis lächelte. Ein ganz normaler Samstag Vormittag. Er hatte die Spielabteilung erreicht. Direkt vor ihm stand eine große Pyramide eingeschweißter “Messenger Effect" Packungen, “Play best on Game Station 4!" erklärte ein Banner darüber. “Schön wär's" dachte er, während er in den Regalen dahinter nach der Last Gen Version suchte. Mit seiner neuen Errungenschaft machte er sich auf den Weg zur Kasse. Auf dem Rückweg kam er noch einmal an der Stelle vorbei, an dem der Wolfsjunge seinem Unmut lauf gelassen hatte. Eine Ausstellungsvitrine war umgestürzt. Glasscherben sprenkelten den Boden. Der Angestellte, ein älterer Wolf, mit hellgrauem Fell, war dabei das Glas zusammen zu fegen. “Kannst du bitte den anderen Gang nehmen, hier gab es gerade… einen Unfall." Er schaute Avis mit einem gezwungen Lächeln an, wobei er seine Reißzähne entblößte. Doch sah er dadurch nicht bedrohlich, sonder ehr noch Hilfloser aus. Avis folgte der Bitte und hatte endlich die Kasse erreicht. Die Wolfsmutter mit ihrem Kind standen vor ihm in der Schlange. Der Junge lächelte glücklich, in der Hand die Verpackung einer Action Figur. Die Mutter schleifte ihn sichtlich genervt hinter sich her. Piep. “Das macht 36.22." Avis war an der Reihe. Er legte “Messenger Effect" auf das Band. Eine mit schwarzen Schuppen bedeckte Hand, griff nach der Hülle, suchte den Barcode und zog ihn über den Scanner. “Kann ich bitte ihren Personalausweis sehen?" fragte eine raue Stimme. Hinter der Kasse saß ein schwarz geschuppter Drache. Er hatte ein langes krokodilartiges Maul, gespickt mit spitzen Zähnen. Zwei hellblaue Augen mit schwarzen Schlitzpupillen starrten ihn an. Avis zog das kleine Plastikkärtchen aus seinem Geldbeutel und reichte es dem Verkäufer. “Avis? Avis Jay?" Ja, das ist mein Name… der steht da auf dem Ausweis, dachte Avis. Was wollte der Verkäufer von ihm. “Ja…" stotterte er irritiert. “Hab ich mich so sehr verändert?" fragte der Drache. Sollte Avis ihn kenne? “Ich bins. Frederic Blake" Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Verstand den Namen zuordnen konnte. Was erstaunlich war, immerhin sah er in jedem Spiegel das Ergebnis eines ihrer frühen Zusammentreffens. Sein Gesicht verzog sich zu dem Vogel äquivalent eines Lächelns. “Was zur Hölle machst du an einer Kasse?" “Arbeiten, oder wonach sieht es aus? Eine Wohnung kostet Geld, Essen auch, eigentlich fast alles außer Atmen kostet irgendwie Geld." erwiderte Frederic. “War da nicht das Ding mit den reichen Eltern, den fast die halbe Stadt gehört?" Inzwischen hatte sich eine Schlange hinter Avis gebildet. “Lief nicht so gut. Sollen wir uns später treffen? Dann können wir drüber reden." das Thema schien für ihn sensibel zu sein. Auf jeden Fall zu sensibel für die Öffentlichkeit. “Klar..." erwiderte der Blue Jay. “Gut. 16:30, am Nordausgang." fügte der Drache noch schnell an, bevor er sich dem nächsten Kunden zu wandte, der ungeduldig wartet. 16:20. Avis stand vor dem Nordausgang des Selling Point. Der kalte Wind wehte durch die Straße. Seine Federn stellten sich auf. Trotz seiner Jacke, fror er. Doch für Frederic hielt er es gerne aus, jedenfalls wenn der Drache bald auftauchte. Eine Tür klapperte hinter ihm und eine schwarze Hand legte sich auf seine Schulter. Er fuhr herum. Zwei große blaue Augen fixierten ihn. Dann schloss sein alter Freund ihn in die Arme. “Verdammt lange nicht gesehen. Seit wann bist du wieder da?" Vor vier Jahren war Frederic nach New Berlin gezogen. Seine Eltern hatten ihn auf eine Eliteuniversität geschickt. Natürlich waren sie sich damals sicher gewesen, sie würden trotz der Distanz in Kontakt bleiben. Wofür gab es Green Book, InstApp und alle anderen sogenannten “Sozialen" Medien, aber über die Jahre… “Zwei Jahre" Er ließ den Drachen los. “Zwei Jahre? Du bist schon zwei Jahre zurück?" Frederic nickte, sein Blick ging an Avis vorbei, irgendwo auf den Boden, er konnte seinem Freund nicht in die Augen schaun. “Studium lief nicht gut. Bin rausgeflogen. Anderthalb Jahre, dann war ich weg." Er machte eine kurze Pause. “Lief einfach scheiße danach. Aber was ist mit dir? Immer noch auf dem Weg zum Superstar?" “Maximal in der Unternehmensberatung… BWL-Studium." Fredrics Blick wanderte an seinem Freund hinab. “Anzug, Krawatte und Aktenkoffer würden gut zu dir passen. Definitiv besser wie mir. Weißt du wie teuer Anzüge mit Flügel Schlitzen sind? Die gibts nicht von der Stange, alles Einzelstücke." “Aber jetzt mal ernsthaft, wollen wir hier weiter in der Kälte stehen, oder suchen wir uns einen Ort, wo es wärmer ist?" Avis zog die Schultern hoch. Seine Federn raschelten, als er sich schüttelte. “Gerne. Schuppen sind bei den Temperaturen ziemlich scheiße. Irgendwelche Vorschläge, die Läden in denen ich normalerweise bin, sind glaube ich nicht der Richtige Ort um ein Wiedersehen zu feiern." “Wir doch waren früher oft im Top Wing. Den Laden gibts noch." Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Die Bar war etwas entfernt. Der Weg führte durch die Innenstadt. Die Straßen waren belebt, aber nicht überfüllt. Trotzdem leitete Frederic sie über kleinere Seitenstraßen und Gassen. Viele der kleinen Wege waren Avis nie aufgefallen, doch Frederic schien sich in diesem Labyrinth aus zu kennen. Unterwegs kamen ihnen zum Teil ziemlich schräge, bis beängstigende Gestalten entgegen. Doch Frederic hatte die Hände in die Taschen gesteckt und schien kein bisschen beunruhigt, vielleicht etwas erschöpft, aber trotzdem waren die Winkel seines langen Mauls zu einem Lächeln nach oben gezogen. Ein Neonschild vor ihnen zeigte einen stilisierten Vogel Flügel. Avis nickte dem Kellner zu. Der schlanke, hoher Falke im Jacket kam zu ihnen herüber.
Als jeder von ihnen ein Glas vor sich stehen hatte, fragte Avis seinen Freund: “Also? Du bist aus dem Studium geflogen, deine Eltern haben das nicht akzeptiert und dich rausgeschmissen?" Das leichte Lächeln in Frederics Gesicht erstarb. “Fast… Ich habe das Studium geschmissen, mein Vater hat mich zusammen Geschrien und ich hab ihm den Kiefer gebrochen. Dann haben sie mich rausgeschmissen." Avis verschluckte sich. “Scheiße… ich dachte du hättest das inzwischen unter Kontrolle." “Es war einfach zu viel…" seine Stimme wurde leiser und erstarb. Für ein paar Sekunden starrte er nachdenklich ins Leere. Dann schien Frederic sich wieder zu fangen. Er hatte wieder das leichte Lächeln im Gesicht, auch wenn Avis es ihm nicht wirklich abkaufte. “Meine Mutter hat geschrien. Mein Vater hat mich Beschimpft, ich wäre eine Enttäuschung, ich sei ein Fehler gewesen… Dann lag er plötzlich blutend auf dem Boden. Ich hab meine Sachen geschnappt und bin weggerannt." Sie waren so lange Freunde, Avis kannte Frederic. Der Drache war keine schlechte Person. Er hatte Probleme und konnte auch mal ausrasten, aber immer hatte er es hinterher bereut. Nachdem Frederic sein Auge ruiniert hatte, war er Avis fast zwei Jahre lang kaum von der Seite gewichen. Hatte ihn vor den anderen Beschützt und war einfach ein guter Freund geworden. Rückblickend bedauerte es Avis kein bisschen. Die Narbe gehörte zu ihm, mit allem anderen hatte er sich abfinden können und dadurch waren sie später beste Freunde geworden. Irgendwie Ironisch… “Aber genug der schlechten Laune, ich bin weg von meinen Eltern, habe einen Job, ein Dach überm Kopf und jetzt sogar einen meiner besten Freunde wieder getroffen. Läuft also irgendwie. Und bei dir? Erzähl mal aus dem Leben des unverbesserlichen Klassenstrebers." “Naja, BWL Studium… sonst gibts kaum was. Niemand gestorben, niemand ernsthaft verletzt. Die Preise für Federpflegemittel sind gefallen, also bleibt mehr Geld für Spiele und Alkohol. Mein Leben ist langweilig. Ach ja, mein Mitbewohner hat angefangen zu schnarchen. Hast du schonmal einen Tiger schnarchen hören? Klingt nicht schön." Tim war ansonsten ein super Typ um sich mit ihm ein Zimmer zu Teilen, doch in letzter Zeit hatte sein tiefes Brummen Avis regelmäßig um den Schlaf gebracht. “Können gerne Tauschen, dann kann ichs mir auch mal anhören." erwiderte Frederic. “Wo wohnst du jetzt eigentlich? Deine Eltern sind vermutlich nicht sonderlich gut auf dich zu sprechen, oder?" “Nee, ein paar Briefe von Familienanwalt und ein einstweilige Verfügung war das einzige was ich in den letzten Jahren von ihnen bekommen habe. Wohne grad bei Carl Semkin. Kann sein, dass du ihn noch kennst. Fuchs. Etwas kleiner, caramelfarbenes, meist wirres Fell. War ein Jahr unter uns." Carl Semkin... Avis überlegte ein paar Sekunden. Er hatte ihn ein paar mal flüchtig gesehen, ein unauffälliger Typ.
Es war kälter geworden. Frederic hatte sein zweites Export vor sich stehen, Avis noch seinen ersten Caipirinha. Thematisch driftete ihr Gespräch über die Vergangenheit. Ihre gemeinsame Schulzeit, vergangene Abenteuer, doch immer wenn es in die Nähe der letzten Jahre kam, wechselte Frederic schnell das Thema. Avis hätte gerne noch mehr erfahren, wollte seinen Freund auch nicht drängen, da er merkte, dass es für den Drachen ein schwieriges Thema war, egal was er selbst behauptete. Die Zeit verstrich. Der Pegel seines Glases sank langsam dem Boden entgegen. Frederic hingegen war bereits bei seinem vierten Bier angekommen. Drachen waren zwar allgemein für ihre erstaunliche Trinkfestigkeit bekannt, doch anhand seiner glasigen Augen, konnte man erkennen, dass der Alkohol bereits Wirkung zeigte. “Wie kommst du nach Hause und wo wohnen du und Carl eigentlich?" “Northern Coast. Trader District." Die gegend am Hafen hatte nicht den besten Ruf. Im ehemaligen Handelsbezirk waren vor einigen Jahren reihenweise neue Wohnblöcke hochgezogen worden. Was soll man sagen, der Boom blieb aus und die Gegend verkam. Avis warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach 0 Uhr. “Also, wie kommst du nach hause? Holt Carl dich ab?" Frederic wollte lachen, verschluckte sich jedoch an seinem Export. Als er endlich wieder Luft bekam, erwiderte er nur: “Selbst wenn er es jemals schaffen würde den Führerschein zu machen, steige ich niemals zu ihm ins Auto. Entweder ich finde einen Bus, oder ich laufe." “Anderthalb Kilometer? In dem Zustand? Komm, ich fahr dich. Mein Auto steht noch am Selling Point." Frederic versuchte noch zu widersprechen, doch Avis bestand darauf. Als der Drache aufstand, musste er sich an der Lehen seine Stuhls festhalten. Wackelig lief er ein paar Schritte, wobei sein Körper versuchte, mit dem Schwanz das Schwanken auszugleichen. Doch Avis sah, dass es ohne sein Eingreifen zu Katastrophe kommen würde und griff seinen Freund unter dem Arm und legte diesen über seine Schulter. Das Gewicht des Drachen zog ihn fast zu Boden. “Sorry…" nuschelte Frederic und richtete sich wieder halbwegs auf. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg… langsam. Einen betrunkenen Drachen durch die Innenstadt zu schleifen, war schwieriger, als Avis es sich vorgestellt hatte. Nicht nur das Gewicht seines Freundes machte ihm zu schaffen, auch der lange, kräftige Schwanz machte einige Probleme. Dieser schien ein Eigenleben zu haben und hielt sich gerne an Laternenpfähle, Zäune und ähnlichem fest, wobei er kleinere Dinge, wie Konservendosen, Flaschen oder Steine auch mal einige Meter mit schleifte. Vor ihnen ragte das große Gebäude des Selling Points auf. Der halbrunde Bau, war kaum beleuchtet, die Läden waren geschlossen. “Scheiße!" entfuhr es Avis. Er hatte sein Auto im Parkhaus abgestellt und das war um diese Uhrzeit bereits geschlossen. Er “stellte" Frederic an der Wand ab, der begonnen hatte in den Taschen seiner Jacke zu wühlen, und rüttelte an der Tür. Normalerweise war das Parkhaus länger geöffnet als der Rest des Einkaufszentrums, doch die Tür bewegte sich keinen Millimeter. “Ehm Sorry. Das mit dem nach hause fahren wird schwierig." Doch Frederic beachtete ihn nicht, sondern wühlte noch immer in seinen Taschen. Dann zog er mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck eine Plastikkarte aus seiner Tasche und taumelte, sich mit einer Hand abstützend, an der Wand entlang. Avis folgte ihm zögernd.
Er brauchte einige Versuche, bis er es schaffte seine Schlüsselkarte durch den Leseapparat zu ziehen. Es gab ein Summen. Als Frederic nicht reagierte drückte Avis schnell die Tür auf, bevor das Schloss sich wieder verriegelte. Im Gang dahinter war es Stockfinster. “Da muss irgendwo ein Licht sssein…" Anscheinend dauerte es bei Frederic eine Weile, bis der Alkohol seine volle Wirkung entfaltete. Avis taste neben der Tür die Wand ab und fand tatsächlich einen Lichtschalter. Die kalten Neonröhren flackerten ein paar mal, bevor sie den Gang in ein konstantes, kaltes Licht tauchten. Die Wände, der Boden und die Decke waren aus unverputztem Beton. Die Tür fiel hinter ihnen zu. Ein weiteres Summe Symbolisierte, dass das Schloss wieder verriegelt war. Frederic hatte sich wieder gegen die Wand gelehnt. Avis schleifte ihn weiter. Die kalten Flure wirkten auf Avis wie das innere einer geheimen Forschungsstation aus einem Spionage Thriller, oder so ähnlich. Wie die Forschungsstation aus Spiral. Hoffentlich kamen ihnen hier unten keine Zombies entgegen. Frederic führte sie durch das Gewirr der Katakomben des Kaufhauses, bis sie am Ende einer langen Treppe vor einer Metalltür standen. Avis drückte die Tür auf. Vor ihnen erstreckte sich ein großer Raum. Im Schein des wenigen Lichts, das durch den Spalt fiel, konnten sie lange Regalreihen erkennen. “Das ist nicht das Parkhaus." “Verdammt, ich dachte…" nuschelte Frederic. Der Kegel einer Taschenlampe strich durch den Raum. Frederic packte Avis, der bereits einen Schritt in den Raum gemacht hatte und zog ihn zurück. Er drückte die Tür wieder zu. “Scheiße der Nachtwächter!" flüsterte Frederic panisch. “Ich dachte du arbeitest hier." “Na und? Will trotzdem nicht erwischt werden…" Also ging es die Treppe wieder hinab und weiter durch das Labyrinth. Avis zweifelte inzwischen stark daran, dass das ganze eine gute Idee gewesen ist… und dass sie in absehbarer Zeit das Parkhaus finden würden. Immer wieder zeigte Frederic aufgeregt auf irgendwelche Türen oder Schilder. Absolut sicher, dass das der Richtige weg war. Nur dass ein Lagerraum, die Küche des Thai Restaurants oder die Abteilung für Herrenbekleidung, keine sonderliche Ähnlichkeit mit dem Parkhaus hatte. Als sie gerade durch die Spielzeugabteilung taumelten, erklang hinter ihren Rücken eine Stimme: “Halt! Stehen bleiben!" Avis drehte sich um. Das helle Licht einer Taschenlampe blendete ihn. Er konnte schemenhaft die Umrisse einer schlanken Gestalt erkennen. “Was machen sie hier?" Scheiße, was sollte er jetzt machen, er hatte definitiv kein Bock auf eine Anzeige wegen Einbruchs. Aber eigentlich waren sie nicht eingebrochen. Es würde nur schwer werden, das dem Nachtwächter zu erklären. Außer… ihm kam eine Idee. Mit einer schnellen Handbewegung fischte er unauffällig Frederics ID Karte aus dessen Tasche. Hoffentlich hatte der Wachmann es nicht gesehen. Er hielt das Stück Plastik hoch. “Ich arbeite hier und habe mein Auto im Parkhaus abgestellt. Ich wollte es eigentlich morgen holen, aber sie sehen, mein Freund hier hat es etwas übertrieben und…" Doch der Wachmann unterbrach ihn mit einer Handgeste. “Schon gut, aber was macht ihr hier oben. Das Parkhaus ist zwei Stockwerke tiefer." “Verdammt. Ich bin noch nicht lange hier und mein Orientierungssinn ist eine Katastrophe. Ich verirre mich selbst tagsüber." Hoffentlich kaufte der Wachmann ihm die Geschichte ab. Dieser schien kurz zu überlegen. Aber anscheinend hatte auch er keine Lust auf den Bürokratischen Aufwand, den eine genauere Untersuchung mit sich ziehen würde. “Zum Parkhaus geht ihr am besten durch den Laden, in der Mitte um das Treppenhaus herum und auf der gegenüberliegenden Seite durch die große Stahltür. Aber macht schnell und vorallem, macht so nen scheiß nicht nochmal." Inzwischen hatten sie Avis Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt und er konnte den Wachmann erkennen. Der Falke trug eine graue Uniform. Er wirkte müde, trotzdem glitten seine Augen aufmerksam über die Umgebung. Avis bedankte sich bei ihm und Frederic gab ein undefinierbares, aber irgendwie dankbar klingendes Knurren von sich. Sie beeilten sich, so gut wie möglich den Laden schnell zu verlassen und schleppten sich in Richtung des Parkhauses.
“Sss war voll der Geheimagenten Move!" kommentierte Frederic begeistert Avis Aktion. “Ja, wäre aber nicht nötig gewesen, wenn du selbst etwas Initiative gezeigt hättest." “Sorry…" nuschelte Frederic. Sie standen endlich vor der großen Stahltür, die zum Parkhaus führte. Avis drückte die Klinke herunter und drückte sie auf. Ein kalter Wind schlug ihnen entgegen. Im gegensatz zum Rest des Gebäudes, war das Parkhaus nicht beheizt. Die Decks des Gebäudes waren leer. Nur ein einsamer, blau lackierter Kombi stand, etwas schief, in einer Parklücke. Avis bugsierte Frederic auf den Beifahrersitz, was sich dank des langen Schwanzes und den Flügeln, als echte Herausforderung darstellte. Dann setzte er sich selbst auf den Fahrersitz. Avis schob seinen Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum. Der Motor stotterte… und erstarb. Er versuchte es erneut. Beim dritten Versuch sprang das Auto an. Avis setzte vorsichtig zurück und fuhr in Richtung des Ausgangs. Mit Frederics Schlüsselkarte ließ sich das Gittertor vor der Ausfahrt öffnen und sie konnten den Sellingpoint verlassen. Normalerweise war kaum noch jemand um diese Uhrzeit unterwegs. Sei es zu Fuß oder mit dem Auto. Doch heute streunten Grüppchen nachtaktiver Wesen durch die Stadt. Fledermäuse, Wölfe und ähnliche Kreaturen. Der fast volle Mond zog sie hinaus auf die Straßen. Avis bog auf die Stadtautobahn ein, die die Stadt durchschnitt. Frederic hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt, den Blick starr nach vorne gerichtet. Er hatte ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht. Avis starrte konzentriert auf die Straße. Seine Augen schmerzten. Er hasste es Nachts zu fahren. Normalerweise hätte er den Bus genommen und sein Auto am nächsten Tag geholt. Doch er konnte seinen Freund doch nicht im Stich lassen. Seinen Freund… Sie hatten sich Jahre lang nicht gesehen. Jahre in denen er kaum einen Gedanken an Frederic verschwendet hatte und jetzt fuhr er den Drachen, der dazu noch stark betrunken war, um 1 Uhr nach Hause. Ein Schild über der Straße wies auf die Ausfahrt zum “Trader District" hin. Im Auto war es stickig, weswegen Avis die Fenster herunter ließ. Als die Scheibe auf der Beifahrerseite nach unten glitt, fiel Frederics Kopf, der davor noch am Fenster gelehnt hatte, hinaus in den kühlen Fahrtwind. Die frische Luft strömte ins innere des Fahrzeugs. Avis atmete tief durch. Neben der Straße, durch sie jetzt fuhren, ragten große fünfstöckige Wohnblöcke in die Höhe. Die Fassaden, die früher mal weiß waren, hatten inzwischen einen gelbgrauen Ton, und bröckelten stellenweise ab. “..a voren ist es" durchbrach Frederic die Stille. Er deutete auf einen der Blöcke. Für Avis würde es ein Mysterium bleiben, wie Frederic die Gebäude auseinanderhalten konnte, doch vertraute er seinem Freund und hielt vor dem Wohnblock. “...anke fürs fahren." lallte Frederic, bevor er versuchte aus dem Auto auszusteigen. Avis stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Dann stieg er aus um seinem Freund zu helfen. Gemeinsam schafften sie den Weg bis zur Haustür. Frederic kramte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche, doch schaffte er es nicht das Schlüsselloch zu treffen. Avis nahm ihm den Haustürschlüssel ab und öffnete die Tür. Frederic taumelte hinter ihm in das Treppenhaus, lehnte sich gegen die Wand und sank daran hinab, bis er auf dem Boden saß. “Na klasse…" dachte Aivs. Aber er konnte seinen Freund hier nicht einfach sitzen lassen. Er inspizierte die Klingelschilder. Kein Blake… aber Frederic hatte doch gesagt, dass er bei Carl Semkin wohnte. Avis fand das Klingelschild. Hoffentlich war der Fuchs noch wach. Er drückte den Knopf ein paar mal. Für eine Minute passierte nichts. Dann knackte der Lautsprecher der Gegensprechanlage. Eine verschlafen klingende Stimme meldete sich: “Wer ist da?" “Avis Jay. Ich habe Frederic dabei…" doch bevor er noch weiter sprechen konnte, unterbrach die andere Person ihn. “Verstehe, warte ich komme." Der Lautsprecher knackte. Dann war wieder Stille. Hinter sich hörte Avis ein tiefes Brummen.
Über ihm gab es ein Klicken. Jemand kam die Treppen herunter. Der Fuchs hatte die Augen zusammen gekniffen. “Danke dass du ihn zurückgebracht hast. Letztes Mal habe ich eine Vermisstenanzeige aufgegeben und er ist erst zwei Tage später wieder aufgetaucht." Avis wusste nicht, ob Carl nur einen Witz machte, doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, meinte er es ernst. Jeder Griff sich einen Arm, des inzwischen laut schnarchenden Drachen und gemeinsam schleppten sie ihn die Treppen hinauf. Natürlich mussten die beiden im dritten Stock wohnen. Bereits nach zwei Treppen wusste Avis, dass er die nächsten Tage Rückenschmerzen haben würde. Als sie endlich die letzten Stufen überwunden hatten, legten sie Frederic wieder an der Wand ab. Carl versuchte in die nicht vorhandenen Taschen seiner Jogginghose zu greifen. “Fuck!" entfuhr es ihm. “Kannste mal nachschaun, ob Frederic seine Schlüssel dabei hat." Avis rollte Frederic etwas zur Seite, um an seine Hosentaschen heran zu kommen. Doch außer seinem Handy, seinem Geldbeutel, ein paar Kaugummis und einer zerknüllten Rechnung hatte sein Freund nichts dabei. “Dann können wir nur hoffen, dass Bruce nicht zu tief schläft." Er betätigte die Klingel. Nichts geschah. Er drückte den Knopf noch ein paar mal. Wieder geschah nichts. “Also wenn du willst, kannst du gehen. Ich kann jetzt nur warten, bis Bruce aufwacht und uns reinlässt." Die Müdigkeit war etwas aus dem Gesicht des Fuchs gewichen und wurde nach und nach durch Resignation ersetzt. Vermutlich aus Verzweiflung betätigte er die Klingel ein letztes Mal. Erst passierte nichts, doch nach vielleicht einer halben Minute konnte man hinter der Tür ein poltern hören. Eine tiefe Stimme stieß einen Fluch aus, den Avis nicht verstehen konnte. Dann klackte das Schloss und die Tür öffnete sich. Eine breite Gestalt stand im Türrahmen. Er trug ein Tanktop, das einen gewaltigen, muskulösen Körper betonte. Das Klischee eines Bodybuilders. Einzig, dass er, aufgrund des Horns auf seiner Nase große Schwierigkeiten hatte durch die Tür zu kommen, zerstörte irgendwie das Bild. Der Nashornkäfer starrte irritiert auf die Szene im Treppenhaus. “Kannst du uns helfen?" fragte Carl den Käfer. Bruce reagierte nicht. “Bitte?" ergänzte der Fuchs. Der gewaltige Käfer setzte sich langsam in Bewegung. Er griff Frederic unter den Armen und schleifte ihn in die Wohnung. “Danke nochmal fürs herfahren. Willste noch reinkommen…? Haben glaub ich noch Bier oder Cola da." Avis überlegte kurz, doch er spürte, wie die Müdigkeit ihn langsam übermannte. “Vielleicht ein anderes mal." Bevor er ging, steckte Carl ihm noch einen zusammengefalteten Zettel zu. “Frederic vergisst es eigentlich immer." flüsterte der Fuchs. Dann fiel die Tür zu. Avis zog das Papierstück hervor und faltete es auf. Darauf stand eine Handynummer. Ein Grinsen im Gesicht schob er den Zettel zurück in die Tasche und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
Es war schon 2 Uhr, als Avis mit seinem Auto in die Einfahrt des Studentenwohnheims einbog. Er parkte auf einem freien Parkplatz und stellte den Motor ab. Die Scheinwerfer erloschen, als er den Schlüssel abzog. Avis blieb noch ein paar Minuten sitzen. Dann zog er sein Handy heraus und schrieb eine kurze Nachricht an die Nummer, die der Fuchs ihm zugesteckt hatte. Keine Antwort. Wenn es wirklich Frederics Nummer war, würde es auch noch eine Weile dauern, bis er eine erhalten würde. Nachdem er gecheckt hatte, ob die Nachricht wirklich angekommen war, steckte er das Gerät wieder weg und stieg aus. In den beiden großen Gebäuden des Wohnheims brannten nur noch wenige Lichter. Die Flure lagen in Dunkelheit. Kaum hatte er das Gebäude betreten, in dem seine Wohnung lag, überkam ihn das Gefühl der Müdigkeit und er musste sich zusammenreißen, nicht auf dem Flur zusammen zu klappen und augenblicklich einzuschlafen. Er taumelte den langen, von kalten Leuchtstoffröhren beleuchteten, Flur hinunter. Seine Hände zitterten und er brauchte einige Versuche um den Schlüssel des Zimmers 78 zu schieben. Beim ersten Versuch rutschte er ab und zog einen weiteren Kratzer in das ohnehin schon stark ramponierte Schloss. Er hielt einen Moment inne. Es war ungewöhnlich Still. Hinter der Tür konnte er Tim schnarchen hören. Beim zweiten Versuch schaffte er es die Tür aufzuschließen. Das kalte Licht fiel in den Raum. Auf dem Boden lagen Klamotten und Bücher, aber auch ein paar leere Dosen schimmerten im Licht. Tim schlief, sein lautes, tiefes Schnarchen ließ keinen Zweifel zu. Avis schloss die Tür hinter sich. Mit der Taschenlampe seines Smartphones, bahnte er sich einen Weg durch das Chaos auf dem Zimmerboden und fiel erschöpft die Matratze seines Bettes. Sein Handy summte. Er warf einen Blick auf das Display. Das helle Licht blendete ihn kurz, bis seine Augen sich angepasst hatten. Nur Spam. Er wischte die E-mail weg, schaltete das Gerät auf Stumm und legte es auf seinen Nachttisch. Morgen war Samstag… er konnte Ausschlafen! Mit diesem schönen Gedanken im Hinterkopf glitten seine Gedanken langsam davon und er schlief ein.
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