*Maximillian Ryland, Orphelia, 31.05.2051 17:08 Uhr*
Am späten Nachmittag bin ich alleine unterwegs. Nach zwei Tagen hatte mir die werte Emma dann doch netterweise gestattet, alleine unterwegs zu sein. Erwartet sie nun ewige Dankbarkeit? Na ja, dankbar sollte ich generell sein, denn ohne sie wäre ich verloren. Vielleicht sollte ich ihr einen Kaffee mitbringen, denn Sie mag ihn ja so sehr.
Jedenfalls bin ich unterwegs zu Malomir Maash, einen Schreiner, der von allen die meisten Erinnerungen behalten hat. Immer noch nicht allzu viel, aber etwas mehr als andere. Er ist sozusagen ein Promi in dieser Welt. Wir versprechen uns viel mit den Treffen mit ihm. Durch ihn würden wir hoffentlich ein großes Stück weiter kommen. Welch ein Glück, dass die Wegbeschreibung so unglaublich simpel war. Emma sagte, dass ich zum unnötig großen Turm mit den Namen Neus am Horizont folgen und dann von dort aus in die linke Richtung drei Straßen weiter recht abbiegen müsste.
Ich war schon fast am Turm und das Ambiente wirkte schon eher wie eine Großstadt als das Stadtzentrum mit Altstadt-Flair. Rechts und links blickend sehe ich hohe Häuserwände, umgeben mit vielen Bäumen auf den breiten Gehwegen. Viel Verkehr, viel Lärm. Die ganzen Springbrunnen auf den ebenfalls breiten Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen fiel einem besonders in Auge. Laut Emelia ist diese Stadt auch bekannt als Bildungsstadt aufgrund der absurd hohen Menge an Schulen, Universitäten und anderen Bildungsstätten. Für ein Ort, welches überflutet ist mit Schüler und Studenten, sieht es hier echt pompös aus. Vielleicht bin ich in der Schnöselecke der Welt gelangt oder es sind einfach andere Zeiten.
Wenige Minuten später stand ich vor einer gewaltigen Treppe, vergleichbar mit dem Eingang zum botanischen Garten aus meiner Zeit. Nicht nur vergleichbar, sie sah genauso aus! Aus dem Garten schien ein unendlich hoher Turm geworden zu sein. Was dort wohl drin ist? Es könnte aber auch nur ein Zufall sein. Mein Blick wanderte nach oben, den ganzen verdrehten, geschwungen Turm nach oben. Dieser wurde von eckigen Steinsäulen umschlungen, welche sich auch schwungvoll um das Gebäude kreisten. Diese wurden immer dünner und alles sah aus wie ein großer auf den Kopf stehender Tornado. Der Architekt war sicher ganz stolz. Ich fragte mich aber, wie so ein Gebäude halten konnte, ohne vom nächsten Sturm umgepustet zu werden. Hat der Architekt auf die Frage ›Wie unpraktisch wollen sie das Gebäude entwerfen?‹ einfach nur mit ›Ja!‹ geantwortet? Wenn alles so übertrieben designt ist, ohne auf die Praktikabilität zu achten, habe ich Angst vor meinem nächsten Krankenhausaufenthalt.
Es war aber nicht das einzig eigenartige hier. Mein Kopf nach rechts geneigt sah ich mir eine weitere Sehenswürdigkeit von Orphelia an. Paar Meter vom Turm entfernt stand ein riesiger Kristall mit vielen unlesbaren Schriftzeichen. Diese sah ich zum ersten Mal, daher auch unlesbar. Nun, nicht ganz. Keiner in dieser Welt konnte diese lesen, da sie vermutlich aus der Zeit vor der großen Amnesie kamen. Da stellte ich mir die Frage, wie es sein kann, dass innerhalb von 30 Jahren eine komplett neue Sprache gesprochen wurde und nach der Amnesie wieder eine alte aus meiner Zeit und Region? Hoffentlich kann dieser Malomir Licht ins Dunkel bringen. Das Licht, das von der Sonne durch das halbtransparente Kristall schien, warf auf mich einen bläulichen Schein. Um diese Art Kristall-Tafel besser betrachten zu können, ging ich die Treppen hoch und hielt meine Hand vor mein Gesicht gen Sonne, um meine Augen vor das blendende Licht zu schützen. Eine Windböe wehte durch die Umgebung und neben mir unterhielten sich zwei junge Passanten, wahrscheinlich Schüler. Ich lauschte kurz:
»Viele glauben, dass dieser Kristall eine Art Namensliste sein soll, da in jeder Reihe Zeichen sind mit genau einer Lücke dazwischen.«
»Ich weiß. Das Thema hatten wir in unserer Klasse auch. Macht voll Sinn. Der Lehrer hat vermutet, dass es ein Andenken sein könnte.«
Die beiden unterhielten sich dann weiterhin über ihr Schulleben und auch über ihre Hobbys. Unteranderem fiel das Wort Photonball. Eine Sportart der Neuzeit wie mir schien. Bevor sie gingen, knipsten beide jeweils ein Foto mit ihren mobilen Geräten. In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ich immer noch nicht weiß, wie diese Dinger eigentlich heißen. Ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Rucksack abzulegen, um etwas Wasser zu trinken. Als ich die Wasserflasche rausholen wollte, fiel mir auf, dass dort noch etwas anderes war. Allerdings war ich zu durstig und ignorierte es erst, um etwas Wasser zu trinken. Anschließend verstaute ich die Flasche und holte das unbekannte Objekt raus. Der helle Schimmer des Kristalls legte sich ebenfalls auf dieses Objekt und verlieh der grauen Farbe einen minimalen Blaustich. Es war ein Gerät, so ähnlich wie die Schüler es eben hatten. Wie kommt es in meine Tasche? Genau betrachtet hatte es die Form einer Spielkarte, nur etwas dicker und mit Tasten und eine Kappe oder Deckel, dass mich an ein Batteriefach erinnerte.
Die Neugier packte mich und ich drückte die Powertaste. Ein holografischer Bildschirm erschien mit einem dunkelgrauen Hintergrund und hellblauen Text:
›Hey Maxim. Erstaunlich, dass du dieses Holos gefunden hast und du in der Lage bist, diesen zu starten. Ich habe dich für unintelligenter gehalten.‹
Mein neutraler Gesichtsausdruck änderte sich in eine leicht missmutige Miene. Doch ich las weiter:
›Es ist ein Geschenk an dich, damit ich dich erreichen kann. Es ist schon fast alles eingestellt. Das Einzige, was du noch zu tun brauchst, ist die DNA-Identifizierung zu aktivieren, damit nur du dieses Gerät benutzen kannst. Keine Angst, so viel traue ich dir nicht zu, daher ist es so eingerichtet, dass es beim nächsten Start diese Nachricht erscheint und anschließend die Einrichtung für die Erkennung stattfindet. Danke mir später. Übrigens: Holos ist umgangssprachlich. Genau genommen heißt das Gerät Holographic Screen Device. Bis dann!
- Emma‹
Na vielen Dank für die lieben Worte. Aber ich konnte trotzdem nicht böse sein. Sie ärgert mich viel, aber sie tut auch sehr viel für mich. Vielleicht ist das Triezen ja die Bezahlung. Nach dem Betätigen der Bestätigungstaste, startete das Programm der DNA-Erkennung. Das Gerät forderte mich auf, es während des Vorgangs nicht auszuschalten oder den physischen Kontakt zum Gerät zu verlieren. Daraufhin erschien ein Ladebalken und nur wenige Sekunden später fing der Bildschirm an, leicht zu rauschen und zu flimmern. Was ist los? Eine rote Fehlermeldung mit der Anmerkung, dass ich nicht identifizierbar bin, ploppte auf und das Hologramm verzerrte sich leicht. Schließlich explodierte die Ecke des Holos und das Gerät war im Eimer. Nach einer halben Minute des verdutzten Schauens, verstaute ich das Gerät wieder.
Na wunderbar. Hat sie mir ein defektes Gerät mitgegeben? Jetzt verarscht sie mich auch noch. Oder ist meine DNA nicht gut genug für das Gerät? Aktuell blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Ich stieg die Treppen hinunter und ging weiter in Richtung meines Ziels.
Kurze Zeit später befand ich mich in der Seitenstraße - oder wohl eher zwielichtige Gasse, so schmal und schattig, wie es hier war - mit dem Wohnsitz und gleichzeitigen Arbeitsplatz von Malomir Maash. Es war kaum jemand hier unterwegs und ich konnte mir kaum vorstellen, dass eine Schreinerei an so einem Ort wirklich sinnvoll war. Bis auf ein paar Türen an den Seiten und ab und zu ein paar Mülltonnen, war hier auch nicht viel zu sehen. Nichtsdestoweniger ging ich unbeirrt weiter, bis aus einer tatsächlichen Seitengasse jemand rein rannte und schnell nach rechts und dann links schaute. Diese war in unmittelbarer Nähe und erblickte mich. Sofort kam sie auf mich zu gerannt, dabei fiel ihre Kapuze nach hinten. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, zückte sie einen Dolch und stach mir direkt ins Herz. Im genau diesen Augenblick sah ich ihr ins Gesicht mit einem geschockten Gesichtsausdruck. Doch die Frau in der Kutte mit langen, blonden Haaren und braunen Augen verzieh nicht ein bisschen das Gesicht. Sie sah Emelia erschreckend ähnlich. Eine Sekunde verstrich und ich wunderte mich, warum ich keine Schmerzen spürte. Stattdessen war mein Körper wie zu Eis erstarrt und ein Taubheitsgefühl machte sich breit. Ich fühlte mich von Moment zu Moment schwächer. Die unbekannte Frau in der Kutte jedoch wunderte sich und fing plötzlich an, sich an ihr Herz zu fassen. Sie schrie wie am Spieß mit einem ohrenbetäubenden und unnatürlich verzerrten Laut. Nachdem ihr Körper zusammensackte, hatte das Taubheitsgefühl den ganzen Körper eingenommen und aus der Starre wurde ein Fall. Mir wurde schwarz vor Augen.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, aber so langsam nahm ich Stimmen wahr. Eine unbekannte, männliche Stimme und die vertraute Stimme von Emma. Über was sie redeten, wusste ich nicht, denn ich war noch nicht ganz bei Sinnen.
Wenige Minuten später kam ich langsam zu mir und realisierte, wo ich war. Natürlich in einem Krankenhaus. Was auch sonst. Wider Erwarten ist es doch wie ein klassisches Krankenhaus eingerichtet und ich befinde mich sogar in einem Einzelzimmer. Es ist wirklich die Schnöselecke dieser Welt! Aber ich bin nicht versichert. Na ja, Emme regelt schon, hoffe ich. Etwa zeitgleich verstummten die Stimmen, da die beiden Personen mein Aufwachen bemerkten. Emma schaute mich besorgt an und fragte zugleich mit wohlwollender Stimme: »Hey. Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?« Träge antwortete ich: »Ich glaube, mir geht es so weit gut.« Emma wollte wieder etwas sagen, doch die Person neben ihr kam Emma zuvor. Ein Mann mit wölfischem Gesicht und dunkler Stimme fragte mich: »Was ist denn passiert?« Ich schaute der Gestalt ins Gesicht. Er sah aus wie ein humanoider Wolf, nur etwas bestialischer. Er war bestimmt über 2 Meter groß. Seine gelben Augen durchdrangen mich. Seine muskulöse Statur war auch recht furchteinflößend. Er war vergleichbar mit einem Werwolf. Sein roter Kinnbart und recht platter, nach hinten gerichteter Irokesenschnitt stand ihn aber. Ich antwortete: »Ich wurde von einer Frau mit blonden Haaren und einer weißen Kutte angegriffen.« Der Werwolf oder Wolfsmensch, wie man ihn jetzt auch immer bezeichnen mag, schaute überrascht.
Ernst sagte der Wolf: »Hör gut zu, Kleiner. Solche Kutten sind in der Spiegeltiefe üblich. Das ist unser verkommener Nachbarkontinent. Ich rate dir, unauffälliger zu werden. Anscheinend haben sie dich in Visier. Sobald du irgendwohin unterwegs bist, ohne in einer Gruppe zu sein, rufst du mich. Ich werde dein Bodyguard spielen müssen.« Er seufzte und fuhr fort: »Ich gebe einem Pfleger Bescheid, dass du aufgewacht bist. Szymon verließ den Raum mit großen Schritten. Daraufhin sprach Emma zu mir: »Das ist Szymon. Den hast du bereits auf dem Foto bei mir zu Hause gesehen. Anziehend, oder? Leider ist er schon vergeben. Na ja, ich hatte eh nie eine Chance bei ihm.« Sie seufzte.
»Wow. Ich dachte, du stehst eher auf hochnäsige, übertrieben elegante Kerle und nicht auf bestialische, übergroße Kerle mit einer stechend gelben Iris.«
Emma schaute mich empört an und antwortete: »Warum haben die Kerle immer irgendetwas an Übermaß, die mir angeblich gefallen sollen? Außerdem ist Szymon ein Lieber.«
»Tut mir leid. Ich wollte nicht anmaßend sein.«
»Alles gut. Du machst doch nur Spaß.«
»Außerdem kannte ich eine Person, die bereits zum vierten Mal verheiratet ist. Gib die Hoffnung nicht auf.«
»Lieb von dir. Aber die beiden sind ein Herz und eine Seele. Außerdem hätte er auch als Single kein Interesse an mir.«
»Oh, das ist hart.«
Ich legte mich zurück ins Bett. Ein wenig fühlte ich mich noch erschöpft.
»Emma?«
»Ja?«
»Hast du Geschwister?«
»Nein, wieso?«
»Die Frau mit der Kutte sah dir unglaublich ähnlich aus, lediglich die Haarfarbe war anders.«
Emma war kurz überrascht, antwortete jedoch: »Das ist wohl ein Zufall. Aber ... Vielleicht gibt es Verwandte, die wir vergessen haben? Offiziell erinnern wir uns an unsere Liebsten. Bisher gab es nie die Situation, dass jemand Personen auf persönliche Fotos nicht wiedererkannt hat. Vielleicht gibt es aber so wenige Ausnahmen, dass es einfach nie zu dieser Situation kam. Oder sind die Fotos gleich mitverschwunden? Irgendwie verursachst du mehr Fragen, als du Antworten lieferst.«
Betroffen antwortete ich: »Tut mir leid.«
Mein Gegenüber schaute kurz, ob jemand lauscht, und antwortete »Schon gut. Wir müssen aber aufpassen, dass keiner unsere Gespräche mithört. Muss ja nicht jeder mitbekommen.«
Emma öffnete ihre Tasche und zückte ein Holo empor. Es war meins und ich wusste jetzt, was mir blühte. Sie fragte empört: »Was. Zur. Hölle? Was ist damit passiert?«
»Na ja«, antwortete ich. »Als es meine DNA gescannt hatte, gab es eine Fehlermeldung und das Ding ist explodiert.« Wie erwartet stand Emma der Mund offen und schaute mich ungläubig an. »Es ist ... explodiert?«
Sie schaute mich an und sagte dann »Nun, es liegt vielleicht daran, dass du nicht von dieser Zeit beziehungsweise Welt bist. Es ist quasi unmöglich eins ohne DNA-Scan zu finden. Ich habe geflunkert, als ich dir erklärt hatte, dass alles voreingestellt sei. Es passiert vollautomatisch. Leider wirst du ohne Kommunikationsgerät auskommen müssen.«
»Nicht von dieser Zeit oder Welt also? Soso«, sagte Szymon plötzlich am Türrahmen. Er war unbemerkt wieder zurückgekehrt. Unsere Diskretion ist gescheitert.
Wir beide schauten uns geschockt an und wussten nicht, was wir nun tun sollten. Uns beiden fiel wohl keine geeignete Ausrede ein. »Keine Sorge, ich werde es nicht rumerzählen, außer vielleicht Malo.« Er war überraschend diskret und wirkte auch generell nicht sehr verblüfft.
Szymon schloss die Tür und trat ein. Er sagte mir mit ernster Stimme: »Du dürftest gar nicht hier sein. Dass du nur durch dein Berühren ein Holo brutzelst, zeigt, dass dein Körper nicht wirklich in der heutigen Zeit funktioniert. Du könntest viel Schaden anrichten. Vielleicht deswegen der Angriff auf dich. Bleib unauffällig und versuche, dich am besten hier zu intrigieren.« Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, erklärte ich den beiden, dass ich noch etwas zu erzählen hatte. Ich erklärte das Geschehnisse mit meiner potenziellen Mörderin in Detail. Beide schauten mich total entsetzt an. Mehrere Momente vergingen, als Emma fragte: »Wie ist es möglich? Maximilian Rhyland, ich befürchte, wir haben viel Arbeit vor uns, wenn wir aufdecken wollen, was hier eigentlich vor sich geht.«
»Ich auch.«
Szymon schnaubte, kam mit verschränkten Arme zu mir zum Krankenbett und erklärte leise: »Okay. Es ist viel passiert und dass Maximillian aus einer anderen Zeit kommt, macht die Sache sehr ernst. Maximillian, du dürftest eigentlich nicht existieren und ich befürchte, dass es gar nicht möglich sein wird, dich zurück in deine Zeit zurückzuschicken. Beginne am besten ein neues Leben.« Nach dieser Erklärung wurde mir ganz kalt. Nie wieder zurück. Gefangen in einer Welt, in der ich nicht richtig ›funktioniere‹ und mir zwielichtige Personen nach dem Leben trachten. Mein Blick senkte sich und unangenehmes Schweigen trat in den Raum. Wie soll ich mich erfolgreich in einer neuen Welt integrieren, wo ich meine Schwester, ohne ein Wort zu sagen, hinter mir lassen muss. Wo ich den jeden Tag in Gefahr lebe und alltägliche Gegenstände nicht nutzen kann. Es fühlt sich eher an, als wäre ich damals durch die Ranken im Garten gestorben und dies ist die Unterwelt, die mich für irgendwas bestraft.
-Kapitel 4.5: Re: Reise ohne Wiederkehr-
*Marina Ryland, Demton, 31.05.2021 17:23 Uhr*
Alleine ging ich durch das Labyrinth aus Schlingpflanzen, verziert mit Tausenden gläsernen Blumen, entlang. Die letzten zwei Tage waren unglaublich schwierig. Ein merkwürdiger Kokon aus Schlingpflanzen im botanischen Garten lief nach meinen berühren auf einmal Amok. Prinzipiell bin ich nun schuld, dass alles überwuchert ist. In Richtung Himmel blickte ich und sah auch dort Unmengen solcher, die mit zahlreichen Lücken genug Sonnenlicht durchließen. Es ist meine Pflicht, alles in Ordnung zu bringen! Nach der angsterfüllten Flucht aus dem Garten haben die Überlebenden gemeinsam einen Ausweg aus der Stadt gefunden. Eine Sache ist allerdings seltsam. Es ist keiner gekommen um uns zu retten beziehungsweise zu helfen. Kein Polizist oder jemand vom Katastrophenschutz. Was geht dort nur vor sich? Es ist aber vielleicht besser so im Moment für mich. Von einigen Augenzeugen wurde ich angefeindet, aber so muss ich jetzt keine Fragen gegenüber Autoritätspersonen beantworten und kann mich auf die Suche nach meinem Bruder, als auch nach Hinweisen über das Geschehene machen.
Aufpassend, nicht den ganzen grünen Stolperfallen zu unterliegen, bahnte ich mir den Weg entlang der Straße. Einige Wege waren zugewuchert, dafür waren einige Wände durchgebrochen dank des Ausbruchs. Neben mir befand ich eine altmodische, umschlungene Laterne, mit dicken, horizontal verlaufenden, pflanzlichen Gebilde. Dies nutzte ich aus, um mich draufzusetzen und auszuruhen. Das Wandern ist sehr kräftezehrend. Ich dachte darüber nach, was geschehen sein könnte, was das alles hier ist und wo zur Hölle mein Bruder abgeblieben ist. Die ganze umschlungene und zerstörte Szenerie hatte auch was Magisches und Aufregendes, wenn es nur nicht so grausam wäre. Einige Minuten später setzte ich meinen Weg etwas ausgeruhter fort.
Bald kam ich am Teeladen vorbei. Auch hier haben die Pflanzen gewütet, aber vielleicht finde ich einen Hinweis darauf, was mit Maxim geschehen sein könnte. Er war immerhin unterwegs zu diesem Laden hier. Als ich das Geschäft betrat, begrüßte mich ein Anblick des Grauens. Die asymmetrische Bauweise der Regale wurde teilweise von Schlingpflanzen verdeckt und es erschien ... symmetrisch. Langweilig, aber gerade nicht wirklich von Belang. Viel aufregender war die Tatsache, dass jemand sich durch die Schlingpflanze, die eine Tür zu verdecken schien, mit einer Machete schnitt. Er schaute mich an und sagte: »Hey Rina, schön dich wohlauf zu sehen!« Sofort schloss er mich in die Arme. Den Händler haben wir immer liebevoll Herr Herzensbrecher genannt. Neugierig fragte ich: »Wie gehts deiner Frau?«
»Ich weiß nicht. Sie hat gestern die Scheidungspapiere eingereicht.«
»Schon deine 4. Ehe, die fehlschlägt.«
»Ich bin wohl nicht beziehungsfähig.«
»Oder du versuchst als Nächstes eine offene Beziehung. Und heirate nicht direkt nach einen Monat wieder. Ist ja nicht zum Aushalten.«
Mein genervter Blick schüchterte ihn ein. Kleinlaut sagte er: »Ich hoffe trotzdem, dass es ihr gut geht.«
Ich zeigte mit meinen Finger in einer Richtung. »Wenn du dort entlang gehst, folge einfach den Markierungen, dann kommst du hier raus. Nicht alle Pflanzen lassen sich durchschneiden. Manche wachsen sofort nach und manche sind unglaublich fest und undurchtrennbar. Aber mal eine andere Frage: Warum bist du noch hier?«
Herr Herzensbrecher antwortete: »Wie du sagtest, sind manche nicht überwindbar. Ich war die ganze Zeit gefangen und hoffte auf Hilfe. Zum Glück war ich im Lager mit Lebensmittel versorgt, auch wenn mir Süßigkeiten so langsam aus den Hals raushingen. Wer weiß, wie viel ich zugenommen habe. Wie auch immer, die Pflanzen bewegten sich von der Stelle weg und ein zweiter Wall aus Pflanzen offenbarte sich, diese konnte ich durchschneiden und war überrascht, dass es tatsächlich ging.«
Mit verwunderten Augen fragte ich: »Du willst mir erzählen, dass sich das Labyrinth ändern könnte? Du musst so schnell wie möglich zum Ausgang! Bisher hatten wir diese Beobachtung nicht gemacht, aber vielleicht haben wir nur Glück gehabt oder die Abwandlung des Verhaltens hat jetzt erst begonnen. Ich muss schnell meinen Bruder finden!«
»Oh, er wird vermisst? Hoffentlich geht es ihm gut. Ich würde dir ja helfen, aber erst muss ich schauen, ob es meine Tochter rausgeschafft hat. Viel Erfolg und nimm diese Machete. Du wirst die eher brauchen als ich.«
»Sicher? Ich bin kopflos wieder ins Labyrinth gestürmt, ohne daran zu denken, dass ich eventuell Werkzeug bräuchte. Du brauchst es selber, falls sich der Weg nach draußen sich verändert oder gar verschlossen hat. In unserer Gruppe war sie nicht, aber vielleicht war sie weit genug vom Epizentrum des Geschehens entfernt und konnte fliehen.«
»Ich hoffe es auch. Und bisher hat sich das Labyrinth ja nicht viel bewegt, daher gehe ich jetzt. Unwahrscheinlich, dass der Weg nun verschlossen ist. Wenn ja, werde ich schon ein Weg finden. Du brauchst es dringender. Suche im botanischen Garten, dort wollte er nämlich nach dem Einkauf hin.«
»Danke! Das hilft sehr.«
Herr Herzensbrecher verabschiedete sich und eilte davon. Ich hingegen fuhr mit meinem Weg zum botanischen Garten fort.
Endlich angekommen ging ich durch den Garten. All die toten Bäumen und Blumen betrachtend merkte ich erst, wie diese grünen Monster das Leben anderer Pflanzen aufsaugte. Auch Rosen, das einzig Gute an der Sache. Aber nicht nur das, denn ich sah aus einen Haufen von Schlingpflanzen eine Hand herausschauen. Ich holte mit der Machete aus und zerschnitt das Hindernis, um den Körper teilweise freizulegen. Fassungslos ließ ich die Machete fallen und schaute direkt weg, als ich merkte, wer es war. Es war die Ehefrau vom Herzensbrecher, leblos. Vermutlich erstickt unter der Masse an grünen Schlingen.
Leichte Panik machte sich in mich breit. So könnte ich auch enden, aber die Machete beruhigte mich etwas. Besorgt um mich und nach wie vor um Maxim, eilte ich durch den Garten. Zerschnitt hier und dort Pflanzen, suchte hier und dort nach Hinweisen.
Eine halbe Stunde verging, als ich wieder im Zentrum ankam. So langsam machte sich Zweifel in mir breit. Dank meines Bruders hatte ich eine unangenehme Kindheit. Lohnte es sich überhaupt? Sollte ich nicht einfach fliehen und ein schönes Leben leben? Doch diese Gedanken verflüchtigten sich sofort, denn ich glaubte meinen Augen kaum. Um den Schlingpflanzenkokon schwebten holografische Monitore! Was zur Hölle ist denn jetzt schon wieder los? Vor Erstaunen ging ich einen Schritt rückwärts und stolperte über einer Schlinge. Ich lag dort und wollte einfach nicht mehr. Es war alles zu viel. Nichts ergab Sinn, alles ist so plötzlich, so schnell. Alles ist so unlogisch. Wo bist du nur Maxim? In diesen Moment kamen mir ein paar Tränen. Die ganze Zeit habe ich die Starke spielen müssen. Mein Leben lang. Aber so langsam komme ich an meine Grenzen. Ich will doch nur meine Ruhe. Liebte ich meinen Bruder denn wirklich? Oder lag es eher an meinen Eltern?
In Gedanken versuchte ich zu entscheiden, ob ich nicht aufgeben sollte und in Selbstmitleid versinken sollte. Es wäre so einfach. Doch dann leuchteten die Monitore kurz auf und eine Stimme war aus ihnen zu hören. Diese sprach: »Armes kleines Mädchen du siehst so traurig aus.«
Verwundert fragte ich: »Wer bist du?«
»Archilupus ist mein Name.«
Halluziniere ich? In Anbetracht dessen, was in den letzten zwei Tagen alles geschah, ist alles möglich.
Die Stimme sprach: »Ich benötige deine Hilfe. Ich bin nicht aus dieser Welt und nur hier an diesem Ort kann ich zu dir sprechen. Ich kann dir deinen Bruder zurückholen, denn dank mir stehen dir alle Möglichkeiten offen«
Etwas misstrauisch war ich schon, aber ich hatte keinen Anhaltspunkt. Vielleicht komme ich mit dieser Stimme ja weiter und verstehe, was das Problem hier ist. Langsam kehrte meine Entschlossenheit zurück, denn meinen Bruder will ich auf jeden Fall wiedersehen. Bis dahin muss ich darüber nachdenken, wer ich wirklich bin und wer ich wirklich sein will. Es fuhr fort: »Ich will dir etwas zeigen.« Ein Teil der Schlingpflanzen bewegten sich auf einmal und ein Teil des Kokons öffnete sich somit. Es rutschte ein lebloser Körper heraus und es war mein Bruder. Mir wurde kalt und mein Herz blieb stehen.
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Petals of the Gods - K. 4: Reise ohne Wiederkehr (Ger)
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